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Zwischen Polygamie und Pandemie

Last updated on 21. Juni 2022

von Anna Voigt

Nicht nur wir differenzieren uns in einer individualisierten Gesellschaft immer weiter aus, sondern auch unsere Beziehungen. Zwar sind in Deutschland sogenannte Mehrehen verboten (und werden mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft), jedoch tendieren immer mehr Menschen zu offenen Beziehungen und anderen Formen der Polygamie. Das Verbot der Mehrehen lasse ich an dieser Stelle mal aus, denn wie erstrebenswert ist schon eine traditionelle Ehe, wenn man ihren historischen Kontext berücksichtigt? Viel relevanter ist aus meiner Sicht wiederum die Polygamie als eine grundlegende Form einvernehmlicher Beziehungen, unabhängig davon, ob romantisch, sexuell, rein platonisch, als offene Beziehung mit priorisierten Partner:innen oder vollkommen gleichwertig.

Und damit sind wir auch schon beim Problem: die Einvernehmlichkeit. Oder anders ausgedrückt: der Konsens. In der Vorstellung klappt das alles ziemlich einfach. Die Partner:innen vereinbaren, dass sie polygam leben wollen und stellen ein paar Regeln auf und schon kann es losgehen! Ab und zu wird es auch mal Probleme geben, sei es wegen der Eifersucht oder wegen eines unausgeglichenen Verhältnisses an Partner:innen. Während eine Person ständig auf der Suche nach neuen Flirts und Begegnungen ist, kann eine andere Person Schwierigkeiten haben, neue Leute kennenzulernen und das Gefühl bekommen, nicht attraktiv genug zu sein.

Wer mit wem? Regeln und wie sie sich verändern

Die Regeln, die dabei ein Ungleichgewicht und Unwohlsein verhindern sollen, können dabei genauso unterschiedlich sein wie die Menschen an sich. Teilweise sind die Freunde der jeweiligen Partner:innen tabu, in anderen Fällen sind es die gemeinsamen Freunde oder es darf generell nicht aktiv nach neuen Partner:innen gesucht werden. Manche Menschen reden offen miteinander über ihre anderen Partner:innen, andere halten es wiederum geheim. Somit entstehen Absprachen, die möglichst allen Bedürfnissen gerecht werden sollen. Doch irgendwann kann man zu dem Punkt kommen, an dem eine:r sagt: “Eigentlich wollte ich das gar nicht. Ich habe das nur dir zuliebe gemacht.”

Na super… war also der ganze Prozess des Aushandelns umsonst? Ganz sicher nicht. Denn wie sich die Menschen und ihre Gefühle mit der Zeit verändern, verändern sich auch die Beziehungen. Sei es durch Regeln, die sich in der Praxis auf einmal doch nicht so gut anfühlen, sei es durch neue Partner:innen, wodurch sich die gesamte Dynamik verändert oder durch Veränderungen im Alltag. Das kann genauso gut ein neuer Job sein, der mehr Zeit als ursprünglich gedacht einnimmt, aber auch eine gefühlt nicht endende Pandemie, in der Social Distancing Alltag bedeutet. Deshalb wird es nötig, den Konsens immer wieder aufs Neue auszuhandeln. Gerade in einer Pandemie zeigt sich, welche Probleme dabei entstehen können und dass nicht alle Partner:innen die gleiche Ausgangposition besitzen… und dementsprechend auch Kompromisse eingehen, die nicht hundertprozentig einvernehmlich sind.

Polygamie. Ein Freifahrtschein für alle?

Schon ohne eine Pandemie zeigt sich, dass einige Menschen leichter als andere darüber entscheiden können, ob sie neue Leute kennenlernen wollen. Zum Beispiel indem sie über mehr Zeit verfügen, welche sie nutzen können, um sich mit anderen Partner:innen zu treffen. Oder indem sie ständig unter Leuten sind und von einer Party zur nächsten torkeln, um dort einem wildfremden BWL-Studi zu erzählen, wie verrückt und ausgefallen man doch eigentlich sei und dass man sich ja mal näher kennenlernen könnte. Ganz oberflächlich gesehen wird dabei auch entscheidend sein, ob das nötige Geld für solche Unternehmungen vorhanden ist und ob man normschön aussieht. Schon allein der Zugang zu neuen Beziehungen ist determiniert von sozialer Herkunft, Geschlecht, Aussehen, (Be)Hinderung und weiteren Dimensionen. Somit bedeutet Polygamie nicht, dass alle Beteiligten plötzlich unbegrenzte Freiheiten haben.

Ich will das nicht. Aber ich kann nicht anders.

Selbst in bereits bestehenden Beziehungen äußern sich diese individuellen Ausgangspositionen immer wieder. Nur, weil man sich bereits in einer (oder mehreren) Beziehung(en) befindet, heißt das nicht, dass sie plötzlich verschwinden. Besonders in einer Pandemie werden diese noch verstärkt: Geldprobleme, Einsamkeit, psychische Belastung, ein fehlender Ausgleich durch Freizeitangebote sind nur einige Probleme, die viele Menschen gerade zu gut kennen.

Menschen in polygamen Lebensformen, welche darauf ausgelegt sind, exklusive monogame Beziehungen zu vermeiden und mehrere Personen parallel zu treffen, müssen nun ihre Kontakte einschränken und zwischen ihren Partner:innen priorisieren. Und obwohl es vielleicht gar nicht der Konsens war, sehen sich manche Menschen in dieser Zeit zur Monogamie gezwungen. Der Lockdown spiegelt jedoch wider, wie wichtig aber der Kontakt zu anderen Menschen ist. Die Zahl der Betroffenen psychischer Erkrankungen steigt, immer mehr Menschen sind auf Hilfsangebote angewiesen. Auch die, die bereits unter ihren Depressionen oder Angststörungen leiden, spüren vermehrt einen Druck und ein geregelter Alltag fällt schwer. Zeitgleich herrscht die Angst, angesteckt zu werden und selber andere anzustecken, wodurch sich viele Menschen zurückziehen und sich hilflos und einsam fühlen.

Feste Bezugspersonen werden also umso wichtiger, indem sie zur Unterstützung in schweren Phasen werden. Damit können jedoch auch unfreiwillige emotionale Abhängigkeiten entstehen. Partner:innen, die teilweise als einzige Vertrauensperson aufkommen, haben nun eine größere Last (zeitgleich zu ihren eigenen Sorgen) zu tragen. Auch die Möglichkeiten, einen Ausgleich zu dieser Belastung zu finden, sind beschränkt. Neue Leute kennenzulernen gestaltet sich schwierig. Das macht die Unzufriedenheit umso größer, wenn man gewohnt ist, mehrere Menschen parallel zu treffen. Die Anlässe und Möglichkeiten sind schlichtweg nicht gegeben und auch aus Solidarität und Vorsicht, sollten die Kontakte wenn möglich eingeschränkt werden.

Ob der Konsens also neu ausdiskutiert und das Risiko eingegangen wird, eine Beziehung im Zweifelsfall zu beenden, hängt mit den damit verbundenen Ausstiegskosten zusammen. Wenn dies bedeutet, dass eine wichtige Stütze und Vertrauensperson wegbricht, kann dies die eigene Situation verschlechtern. Ist die Beziehung zusätzlich mit eigenen Kindern, einer gemeinsamen Wohnung oder einem gemeinsamen Freundeskreis verbunden, so steigt die Wahrscheinlichkeit Kompromisse einzugehen und den bisherigen Konsens beizubehalten.

Polygamie: Zum Scheitern verurteilt?

Letztendlich stellt sich die Frage, ob polygame Lebensweisen überhaupt funktionieren können. In Anbetracht der Schwierigkeiten bei der Konsensfindung scheint es unmöglich zu sein, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Sollte man sich also gegen die Polygamie entscheiden? Ich denke nicht. Egal, in welcher Form von Beziehung ich mich befinde, sowohl in der Polygamie als auch in der Monogamie kommt es immer wieder dazu, den Konsens neu aushandeln zu müssen. Zwar geschieht dies vielleicht öfter in polygamen Beziehungen, in denen sich die Anzahl der Partner:innen regelmäßig ändern kann, jedoch ist das Erfragen nach Konsens ein wichtiger Teil, um Einvernehmlichkeit herzustellen und glückliche, vertraute Beziehungen führen zu können. Entscheidend ist, zu erkennen, dass auch die Polygamie nicht frei von Zwängen ist, besonders nicht in einer Pandemie. Aufeinander Acht geben und aufeinander eingehen ist nun wichtiger als je zuvor.

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