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Mein, Dein, Unser:
Von Herkunft und Heimat

Last updated on 22. Juni 2022

von Larissa

Ich bin in Vietnam geboren.
Aber alle meine Erinnerungen spielen in Deutschland.
Meine Herkunft war nie meine Heimat. Wo ich herkomme ist nicht da, wo ich hingehe. Und das scheint für viele Menschen ein Problem zu sein. Warum ist die Frage nach Herkunft, so wichtig für die Definition von Heimat? Ist sie das überhaupt?

Wenn ich alt bin, möchte ich meinen Enkelkindern von meiner Heimat erzählen. Von der Stadt, die stolz auf ihren Großstadtstatus ist und für mich doch nur aus einer Straße besteht. Vom Park, in dem ich immer spazieren war und den Bäumen, auf denen ich dort herumgeklettert bin. Ich möchte sie mit Geschichten über meine ersten Skateversuche zum Lachen bringen und ihnen erzählen, wie ich mich erst auf Inlinern und dann auf einem Skateboard versucht habe – ohne je gut darin zu werden, geschweige denn Spaß daran zu bekommen.

Heimat ist für mich der Straßenkreisel vor unserem Haus, meine beste Freundin aus der Grundschulzeit und die alte Dame, die mich immer für meine Kreidekunstwerke lobte.
Heimat ist für mich der Ort meiner Kindheit und alles was damit zusammenhängt.

Für meine Oma ist es das nicht. Die Orte ihrer Kindheit sind mit negativen Assoziationen verbunden. Sie ist mit sechs Jahren aus Schlesien, dem heutigen Polen, geflohen und ihre frühen Kindheitserinnerungen sind verbunden mit Verfolgung, mit Krieg. Auch in Deutschland hat sie sich nicht heimisch gefühlt: während sie in Polen eine von den „Nazis“ war, wurde sie hier nur als „Pollake“ beschimpft. Die Frage nach ihrer Herkunft tut ihr weh, die Frage nach ihrer Heimat noch mehr. Sie hat nie eine Definition dieser zwei Begriffe für sich gefunden und wird von den anderen immer wieder daran erinnert.

Irgendwie kann ich sie verstehen. Wir waren nie die ersten, die uns gefragt haben, wo wir wirklich herkommen. Wir waren nie die ersten, die darüber nachgedacht haben, ob wir hier wirklich sein dürften. Schon im Kindergarten wollten alle wissen, wo ich wirklich herkomme und ob ich mich hier denn auch heimisch fühlen würde. Bis heute erzähle ich, wie gern ich Kartoffeln esse und wie sehr ich die deutsche Sprache liebe. Das ist nicht mal gelogen, aber lässt die Menschen eher darauf schließen, dass ich hier geboren bin und sich meine Herkunft somit in Deutschland verorten lässt. Ich erdachte mir eine falsche Herkunft, um mich heimischer zu fühlen. .

In den Semesterferien fahren meine Freund*innen heutzutage immer in die Heimat. Für viele ist es der Ort, an dem sie und ihre Familie geboren wurden. Sie verbinden ihre Herkunft mit Heimat. Meine Oma schüttelt den Kopf, wenn sie daran denkt, nach Polen zurückzumüssen. Auch ich habe nicht das Bedürfnis nach Vietnam zu fahren. Warum auch? Für meine Freund*innen ist der Besuch in der Heimat ein Trip in eine andere Stadt, für mich wäre der Besuch meines Herkunftsortes eine Reise in ein anderes Land. Würde ich in einer mir gänzlich fremden Kultur ein Gefühl von Heimat erfahren.

Menschen, die ihre Herkunft als Heimat definieren, können oft nicht wahrhaben, dass andere Menschen dies nicht tun. Sogar aus ihrem Herkunftsland abwandern oder fliehen, um sich anderswo eine neue Heimat suchen. Hier prallt Fremdes und Vertrautes aufeinander, die Angst vor dem Sicherheitsverlust ist groß. Sie fangen an, sich Fragen zu stellen: Wenn meine Heimat die der Fremden wird – was ist dann noch vertraut?

Was ist dann noch heimisch?

Das Land, in dem ich geboren wurde oder doch die Menschen, die in eben dieses Land gekommen sind?

Können sie mir meine Heimat wegnehmen?

Dürfen sie einfach so ihre Heimat wechseln?

Darf ich meine Heimat wechseln?

Hat das Wechseln eines Landes einen anderen Stellenwert als das Wechseln der Stadt?

Es ist übergriffig, zu denken, man könne diese Fragen für irgendjemand anderen als sich selber beantworten. Eine Einteilung, die man vornimmt, um sich abzugrenzen und in den meisten Fällen aufzuwerten. Meine Heimat ist hier und deine ist dort, deshalb ist meine Heimat besser als deine. Das romantisch-nostalgische Gefühl der Heimat schlägt um in tradierte Stagnation und ein nationales Identitätsdenken. Im Streben nach Einigkeit entsteht Zwiespalt. Wo liegen die Grenzen der Definitionen?

Wir erschaffen uns unsere Heimat selbst, in dem wir von ihr erzählen.

Wenn ich die Menschen in meinem Umfeld frage, was für sie „Heimat“ eigentlich bedeutet, nennen sie Personen, Orte und Zugehörigkeiten. Erinnerungen, die ihnen ein gutes Gefühl gegeben haben – in der Erzählung traurig-melancholisch angehaucht und immer mit etwas Sehnsucht in der Stimme.

So wie ich meinen Enkelkindern von meiner erzählen möchte und so wie meine Oma mir von ihrer erzählt hat. Denn vielleicht ist Heimat weniger ein Ort, nicht das Land unserer Herkunft oder das, in dem wir groß geworden sind, sondern vielmehr ein Gefühl. Und wenn es das ist, dann hat keiner das Recht, es uns abzusprechen. Es gehört uns und damit auch die Definition von Heimat. Ganz unabhängig von unserer Herkunft.

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