Last updated on 19. Januar 2022
von Niklas Stuhr
„Hier ist das erste deutsche Fernsehen mit der Tagesschau“
ist vielleicht der bekannteste Satz der deutschen Fernsehgeschichte.
Dicht gefolgt nur von „Das war spitze“ oder „Menowin, deine Performance war mega kacke“. Untrennbar von diesem ikonischen Satz, der den Tagesschausprecher*innen jeden Abend über die Lippen gleitet, ist die Melodie, die währenddessen ertönt. Jede*r kann sie summen oder zumindest erkennen. Doch, woher kommt die Melodie überhaupt? Wer hat sie geschrieben? Warum wurde sie geschrieben? Und ist sie das perfekte Sinnbild für Deutschland?
Eine typisch deutsche Biografie
Ohne lang auf die Folter zu spannen: komponiert wurde die Melodie von einem Herren namens Hans Carste. Dieser wurde 1909 als Hans Häring geboren und war Komponist und Dirigent. Nach dem Abitur begann Carste zunächst ein Studium der Staats- und Wirtschaftswissenschaften, beendete dies jedoch nie und wechselte stattdessen an die Musikakademie, um seiner eigentlichen Leidenschaft, der Musik, zu folgen. Anfang der 1930er-Jahre zog der junge Musiker nach Berlin, erlebte dort den freizügigen Lebensstil der Hauptstadt, beeinflusst von der großen Künstlergemeinschaft. In seiner Zeit in Berlin vor dem Krieg schrieb Carste 24 Filmmusiken, Kompositionen für das Kabarett, schloss einen Exklusivvertrag mit der Firma Electrola ab und betrieb zudem noch eine Tanzkapelle unter seinem Namen. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde Carste im Mai 1933 Mitglied der NSDAP und 1942 schließlich zum Kriegsdienst ins heutige Polen einberufen, wo er schwer verwundet wurde. Im November des gleichen Jahres geriet er in sowjetische Kriegsgefangenschaft, aus welcher er erst 1948 entlassen wurde. In diesen sechs Jahren schrieb er auf selbstgebasteltem Notenpapier viele verschiedene Stücke, die er zum Teil sogar im Lager aufführen durfte. Nach seiner Rückkehr begann er für den Rundfunk im amerikanischen Sektor Deutschlands, dem RIAS, zu arbeiten, wurde dort 1949 Abteilungsleiter für Unterhaltungsund Tanzmusik. Seiner alten Beschäftigung als Komponist für Filmmusik ging er weiter nach. Nach einem Amt bei der BIEM in Paris, wurde Hans Carste zudem auch noch Vorstandsmitglied bei der GEMA. Später zog er sich aufgrund einer schweren Krankheit aus allen Ämtern zurück und verstarb 1971 in Bad Wiessee.
Eine Historie der Erkennungsmelodie der Tagesschau
Seit ihrer ersten Sendung im Jahr 1952, hatte die Tagesschau viele verschiedene Erkennungsmelodien, die immer mal wieder überarbeitet wurden. 1952 wurde man als Zuschauer*in der Nachrichten noch von einer, man könnte glatt sagen, klassischeren Orchesternummer begrüßt. Fast schon fetzig und wie aus dem Vorspann eines Kinofilms macht sich die Tagesschau hier auf. Schade, dass man anschließend von einem Sprecher mit der Ausstrahlung eines Handtuchs begrüßt wurde. 1956 ertönte schließlich das erste Mal die Melodie, die jede*r Deutschen bekannt ist. Ein Fanfarenenfragment aus der „Hammond-Fantasie“, einem Stück, welches Carste ebenfalls in sowjetischer Gefangenschaft schrieb, wurde zu der Melodiefolge, die noch bis heute jeden Abend aus den Fernsehern ertönt.
Doch klang die Melodie nicht immer so wie wir sie heute kennen, über die Jahre hat sie einige Veränderungen durchgemacht. Oft variierten diese verschiedenen Versionen nur in Schnelligkeit, Ensemble oder Aufnahmequalität, doch es gab auch ein paar Ausreißer. 1994 waren die Macher*innen der Tagesschau wie es scheint sehr flippig und hip unterwegs. Nachrichten an die junge Zielgruppe bringen – das war das Anliegen. Also hat das altehrwürdige Intro von Hans Carste schnell eine Überarbeitung gekriegt. Bis ins Jahr 1996 wurde man nun begrüßt von einem, für die 90er Jahre typischen, synthetischen Drumbeat, gepaart mit Streichern und einem funky Rhythmus.
Die Tagesschau hatte Schmiss! Man kann sich gar nicht vorstellen, was damals los gewesen sein muss. Der Kontrast wurde dadurch aber nur noch schlimmer. Auch die hellste, poppigste Version der Hammond-Fantasie hilft nichts, wenn das Handtuch anschließend wieder „Guten Abend, meine Damen und Herren“ ohne jegliche Energie in die Kamera spuckt (sorry, Jan Hofer). 1997 kam man schließlich zur Besinnung und kehrte zurück zu einer klassischeren Interpretation der Erkennungsmelodie.
Wo ist mein Geld, Alter?
Probleme gab es mit der Erkennungsmelodie immer wieder. Zuletzt 2015 als die Tagesschau bekannt gab, die Melodie würde mal wieder überarbeitet werden. Dieses Mal von Hans Zimmer (hier Inceptionsound einfügen). Das kam bei der wütenden deutschen Facebookmeute natürlich überhaupt nicht gut an. Man könne doch nicht einfach, also was für eine Frechheit, das war doch schon immer so, jetzt muss doch auch mal, und so weiter. Unwissend wieder darüber, wie oft die Melodie letztendlich schon überarbeitet wurde (und wie fetzig sie zu 90er-Jahre Rave-Zeiten war). Auslöser für den Tumult war vermutlich die BILD, die exklusiv berichtete, die Tagesschau würde eine komplett neue Melodie bekommen.
Für Hans Carste und später auch seine Witwe brachte die berühmte Erkennungsmelodie jedoch oft nur Geldprobleme mit sich. Als Vorstandsmitglied der GEMA lies sich Carste selbstverständlich nicht lumpen und wurde regelmäßig für die Nutzung seiner Melodie bezahlt. Noch in den 2010er-Jahren erhielt Grit-Sieglinde Carste eine monatlich Vierstelle Ausschüttung an Tantiemen für die Nutzung der Hammond-Fantasie. Eben jene fand übrigens auch die Überarbeitung der Melodie 2015 nicht so witzig und wollte rechtlich dagegen vorgehen. Sie fand eine Veränderung des Intros wäre nur mit ihrer Zustimmung erlaubt.
In gewisser Weise spiegelt die Tagesschaumelodie sehr gut die deutsche Nachkriegsgeschichte wieder. Der Komponist, der sie in Kriegsgefangenschaft schrieb, die regelmäßigen Veränderungen, die den Zeitgeist Deutschlands zu dem Zeitpunkt widerspiegelten. Bis hin zum wütenden Internetmob 2015, der sich gegen eine Absetzung der Melodie wehrt, die so eh nie geplant war. In diesem Sinne vielen Dank Hans Carste für DIE perfekte Deutschland Metapher.
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